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Sozialversicherungsrechtliche Fragen bei der Arbeitnehmerentsendung aus Bulgarien in die Bundesrepublik Deutschland
Ginka Tabanska
RechtsanwältinRalitza Mahony
DiplomjuristinAusstellung einer Bescheinigung (Formular A1) über das anwendbare Recht
Am Ende unseres Artikels in der Newsletter-Ausgabe 19/ 2011 wurde die Frage über das anwendbare Sozialversicherungsrecht bei der Arbeitnehmerentsendung von Bulgarien in die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen von Werkverträgen angesprochen. Anlässlich der in letzter Zeit aufgetretenen Fragen im Zusammenhang mit der Ausstellung der Bescheinigungen A1 hat der vorliegende Artikel zum Gegenstand, dieses Verfahren zu erläutern.
Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft gewährleistet die Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie die Abschaffung jeglicher Ungleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsverhältnisse. Der Rat ist zu diesem Zweck befugt, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, insbesondere durch Erlass der jeweiligen Rechtsvorschriften, zwecks Erwerb und Aufrechterhaltung der sozialen Leistungsansprüche der innerhalb der Gemeinschaft wandernden Arbeitnehmer. In Ausübung dieser Befugnis haben der Rat und das Europäische Parlament die Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit erlassen.
Die in dieser Weise mit der Verordnung Nr. 883/2004 („die Verordnung”) aufgestellten Regeln zur Koordinierung bezwecken, dass die auf dem Gemeinschaftsgebiet wandernden Arbeitnehmer nur einer Rechtsordnung unterliegen. Der Grundsatz lautet, dass der Arbeitnehmer der sozialen Rechtsordnung desjenigen Staates unterliegt, in welchem er seine Arbeitsleistung erbringt („lex loci laboris”). Die ausnahmslose Geltung dieses Grundsatzes würde aber zu ständigem Wechsel des anwendbaren Rechts auch bei kurzfristigem Arbeitsortwechsel führen. Aus diesem Grund führt die Verordnung eine Hauptausnahme von seiner Geltung bei Entsendung von Arbeitnehmern auf Dienstreisen ein, wonach die gewöhnlich in einem Mitgliedstaat tätigen Personen, die vorübergehend von einem Arbeitgeber, der eine Beschäftigung in demselben Staat ausübt, in einen anderen Mitgliedstaat zur Ausübung derselben Tätigkeit entsandt werden, weiterhin den Rechtsvorschiften des ersten Mitgliedstaates unterliegen. Die Verordnung selbst sieht in Art. 12 Abs. 1 zwei dieses Prinzip einschränkende Kriterien vor, und zwar, dass die Dauer der Entsendung 24 Monate nicht überschreitet, und dass die entsandte Person nicht zur Ablösung einer anderen Person entsandt wird.
In dem II. Titel der Verordnung Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit („die Durchführungsverordnung”) sind zusätzliche Voraussetzungen für die Anwendung der erwähnten Ausnahmeregelung aufgestellt: (1) der Arbeitnehmer unterlag bereits vor der Entsendung den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sein Arbeitgeber ansässig ist, und (2) der entsendende Arbeitgeber übt ihrem Umfang nach wesentliche Tätigkeit auf dem Gebiet des Mitgliedstaates, in dem er seinen Sitz hat, aus. Zu beachten ist, dass alle sowohl in der Verordnung als auch in der Durchführungsverordnung geregelten Voraussetzungen kumulativ (gleichzeitig) erfüllt sein müssen, damit die entsandte Person weiterhin der Rechtsordnung des Entsendestaates unterliegt.
Wegen der Möglichkeit zur unterschiedlichen Auslegung der letztgenannten Voraussetzung und der weiten Bedeutung des Begriffs „ihrem Umfang nach wesentliche Tätigkeit“, die der Arbeitgeber auf dem Gebiet des Entsendestaates ausüben muss, hat die Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit mit Beschluss vom 12.06.2009 Stellung zu der Auslegung und der Anwendung des Art. 12 Abs. 1 der Verordnung genommen. Die so erteilten Anweisungen wurden in der Praxis von der für die Anwendung der Verordnung in Bulgarien zuständigen Nationalen Einkommensagentur übernommen und wurden als Bedingungen für die Anwendung der bulgarischen Rechtsvorschriften bei vorübergehender Tätigkeitsausübung in einem anderen EG-Mitgliedstaat in dem auf der Internetseite der Einkommensagentur veröffentlichten Merkblatt für die Bestimmung der anwendbaren Rechtsordnung nach Titel II der Verordnung Nr. 883/2004, Fassung vom 2011. Nach den so festgelegten Regeln zur Auslegung und Anwendung des Art. 12 Abs. 1 der Verordnung sind folgende Kriterien für die Annahme der Anwendung der Rechtsvorschriften des Entsendestaates von grundlegender Bedeutung:
- Anzahl der beschäftigten Personen, die auf dem Gebiet des Entsendestaates Tätigkeit ausüben;
- der von dem Arbeitgeber auf dem Gebiet des Entsendestaates realisierte Umsatz im Verhältnis zum Gesamtumsatz für die vergangenen 12 Monate – in der Praxis liegt die Grenze bei 25% und in den meisten Fällen des diese Grenze unterschreitenden Umsatzes in Bulgarien wird angenommen, dass der Arbeitgeber keine ihrem Umfang nach wesentliche Tätigkeit in Bulgarien ausübt;
- Ausübung einer Tätigkeit von dem Arbeitgeber auf dem Gebiet des Entsendestaates für einen bestimmten Zeitraum, wobei für diesen keine konkreten Grenzen geregelt sind, sondern das Vorliegen dieser Voraussetzung wird nach den Umständen beurteilt.
Die die Verordnung anwendende zuständige Gebietsabteilung der Einkommensagentur kann bei Beurteilung der Frage über den Umfang der Tätigkeit des Arbeitgebers in dem Entsendestaat auch einige zusätzlichen Kriterien mit indizieller Bedeutung berücksichtigen, wie z.B. wo sich sein Sitz befindet, welches Recht auf die mit den entsendeten Arbeitnehmern abgeschlossenen Arbeitsverträge angewandt wird, Vergleich zwischen der Zahl der erfüllten Verträge in dem Entsende- und in dem Annahmestaat, sowie Vergleichbarkeit seiner Tätigkeit jeweils in dem Entsende- und in dem Annahmestaat.
Neben den oben genannten Voraussetzungen für die Anwendung der Rechtsvorschriften des Entsendestaates nach Art. 12 Abs. 1 der Verordnung stellen die Verwaltungskommission und entsprechend auch die Nationale Einkommensagentur eine zusätzliche Bedingung auf, wonach von entscheidender Bedeutung auch der Umstand ist, ob die direkte Verbindung zwischen Arbeitgeber und entsandter Person für die gesamte Dauer der Entsendung aufrechterhalten bleibt. Die Erfüllung dieser Bedingung wird ihrerseits nach einigen Kriterien beurteilt, wobei zwingend ist, dass (1) das Arbeitsverhältnis wirksam bleibt, (2) der entsandte Arbeitnehmer ein bestimmtes Ergebnis von der Ausübung seiner Beschäftigung schuldet (d.h. bestimmte Tätigkeit/ Leistung seitens des entsendenden Arbeitgebers und nicht überlassenes Personal, durch welches das annehmende Unternehmen seine eigene Tätigkeit ausübt), und (3) die Aufrechterhaltung der Weisungsbefugnis des Arbeitgebers, der während der gesamten Dauer der Entsendung zumindest den allgemeinen Rahmen der Beschäftigung bestimmt.
Bei gleichzeitiger Erfüllung der als zwingend bezeichneten Voraussetzungen und Kriterien für ihre Beurteilung wird die Rechtsordnung des Entsendestaates (Bulgarien) in Hinblick auf die sozialversicherungsrechtlichen Rechte und Pflichten während der Dauer der Entsendung in Deutschland angewandt. Zum Nachweis dieses Umstandes wird aufgrund eines bei der am Sitz des Arbeitgebers zuständigen Gebietsabteilung der Nationalen Einkommensagentur von diesem oder von dem Arbeitnehmer gestellten Antrag eine Bescheinigung nach Muster A1 über die anwendbaren Rechtsvorschriften ausgestellt. Mit der ausgestellten Bescheinigung wird rechtverbindlich für alle Organe und Behörden im Annahmestaat bestätigt, dass für die darin angegebene Dauer, die nicht länger als 24 Monate sein und nicht verlängert werden kann, der Arbeitnehmer weiterhin der bulgarischen Gesetzgebung unterliegt. An dieser Stelle wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die ausgestellte Bescheinigung nur in Hinblick auf das Sozialversicherungsrecht, nicht aber auf das Steuerrecht gilt. Die Bescheinigung wird innerhalb von 30 Tagen ab Eingang des Antrags mit allen Anlagen dazu, die das Vorliegen der Voraussetzungen für ihre Erteilung nachweisen, ausgestellt.
Berechnung der Höhe der Sozialversicherungsbeiträge für die in die Bundesrepublik Deutschland entsandten Arbeitnehmer aus Bulgarien
Auch nach Bestimmung der anwendbaren sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften in der oben dargestellten Weise entsteht für bulgarische Arbeitgeber, welche eigene Mitarbeiter nach Deutschland entsenden, Unklarheit und Unsicherheit im Zusammenhang mit der Berechnung des Sozialversicherungseinkommens der entsandten Arbeitnehmer. Nach den Änderungen des Art. 6a des Sozialversicherungsgesetzbuches, in Kraft ab dem 01.01.2012, werden die Sozialversicherungsbeiträge für die in das EU-Ausland entsandten Arbeitnehmer auf nicht weniger als den Mindestlohnsätzen in dem Annahmestaat entrichtet und für die Arbeitnehmer, die in einem EU-Staat entsandt werden, in welchem keine Minimalvergütung bestimmt ist – in den Grenzen zwischen minimaler und maximaler Versicherungsbasis nach der bulgarischen Gesetzgebung.
Diese Vorschrift ist in Hinblick auf die Verpflichtung der EG-Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 1 Buchstabe c) der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen („die Richtlinie”) eingeführt worden, durch Erlass entsprechender Rechtsvorschriften und/ oder Tarifverträge den Arbeitnehmern, welche auf ihr Gebiet entsandt worden sind,Mindestlohnsätze zu gewährleisten. Gegenwärtig sind in Deutschland durch Tarifverträge nur in manchen Bundesländern und nur für wenige Leistungsarten (z.B. Baugewerbe, Abfallwirtschaft, Sicherheitsdienstleistungen u.a.) Mindestlöhne bestimmt worden. Für die überwiegende Zahl der Berufe fehlt weiterhin eine einheitliche Regelung der Mindestlohnsätze. Die politische Debatte zu diesem Thema wird in den letzten 5 Jahren bitter geführt, wobei die führenden politischen Kräfte immer noch keine eindeutige Stellung „pro“ oder „contra“ einer solchen Neuregelung nehmen können. Daraus dürfte grundsätzlich folgen, dass gemäß der zitierten Ausnahmeregelung des Art. 6a Abs. 1 des Steuer- und Versicherungsgesetzbuches mangels bestimmter Mindestlohnsätze die in Bulgarien geregelten Versicherungsgrenzen gelten sollten.
Bei Steuer- und Sozialversicherungsprüfungen stützt sich die Finanzverwaltung in Bulgarien auf der Legaldefinition des Begriffs „Mindestlohnsätze“, welche auch die in der Praxis des Annahmestaates bestimmten Lohnsätze mitberücksichtigt. Mangels Rechtsprechung zu dieser Frage kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob unter „Praxis des Annahmestaates“ die für alle Berufe in dem betreffenden Staat errechnete durchschnittliche Mindestentlohnung oder auch die gewöhnliche Entlohnung für eine Berufsart oder aber auch die übliche Vergütung derselben Tätigkeitsart in dem Annahmeunternehmen bzw. in dem Bezirk, in welchem es seinen Sitz hat, zu verstehen ist. Unseres Erachtens sind, soweit die Richtlinie die Bestimmung von Mindestlohnsätzen durch Rechts- oder Verwaltungsvorschrift bzw. Tarifvertrag vorsieht, die anderweitig bestimmten Lohngrenzen in Deutschland unanwendbar bei Berechnung des Versicherungseinkommens der entsandten Arbeitnehmer. Andererseits hätten die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach der Richtlinie bis zum 16.12.1999 erfüllt sein müssen und nach der gefestigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes können Richtlinien auch unmittelbar ohne Umsetzung in innerstaatliches Recht zugunsten der EU-Bürger angewandt werden, wenn sie inhaltlich ausreichend bestimmt und unbedingt sind. Fraglich bleibt in diesem Fall, inwieweit eine unmittelbare Anwendung praktisch möglich ist (Berechnung von Mindestlohnsätzen durch die Verwaltungsorgane), und ob eine unmittelbare